Hintergrundinformationen

Syrische Flüchtlinge im Libanon

Der Libanon hat die Hälfte der Fläche Hessens. Landschaftlich geprägt ist das Land mit seinen 4,5 Mill. Einwohnern durch die beiden Gebirgsketten in Nord-Südrichtung, nämlich dem Libanon an der Küste, bis 3.000 Meter steil ansteigend, und dem Antilibanon parallel dazu im Osten, an der Grenze zu Syrien. Der Name des Landes leitet sich übrigens von den schneebedeckten Gipfeln dieses Gebirges ab. Ein anderer Name lautet auch Zedernstaat (siehe Flagge).

Siedlungsschwerpunkt ist die schmale Küstenebene mit den Städten Beirut im Zentrum, Tripoli im Norden sowie Sidon und Tyros im Süden. Wenn auch deutlich geringer, ist ebenso das schmale, sehr fruchtbare Bekaa Tal zwischen den beiden Gebirgszügen im Westen und Osten besiedelt. Es erstreckt sich auf einer Länge von ca. 130 km und in einer Breite von 20 bis 30 km.

Der Libanon ist ein uralter Zivilisationsschwerpunkt und dementsprechend multikulturell, multireligiös und ethnisch vielfältig geprägt. Phönizier, Assyrer, Perser, Griechen, Römer, Byzantiner, Araber, Türken und nicht zuletzt die Kolonialmächte Frankreich und England haben hier ihre Spuren hinterlassen. Es gibt ca. 10 Mill. Auslandslibanesen, die das Land unterstützen und sicher auch stabilisieren.

In schrecklicher Erinnerung ist den Älteren von uns noch der libanesische Bürgerkrieg von 1975 bis 1990. Neben schlimmsten Zerstörungen und wirtschaftlichem Niedergang kostete er das Land ca. 250.000 Tote. Diese Erinnerung ist im Lande noch allgegenwärtig.

Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs in den Sommermonaten 2011 hat der Libanon, wie auch Jordanien und die Osttürkei, mit ansteigenden Flüchtlingszahlen zu kämpfen. Aktuell beherbergt der Libanon 1,2 Mill. registrierter Flüchtlinge. Dazu kommen unter der Hand emigrierte Syrer, die auf 300.000 bis 500.000 geschätzt werden. Alleine das Bekaa Tal, beherbergt jetzt ca. 700.000 Flüchtlinge die in ca. 1.800 Camps untergebracht sind. Darunter ein erschreckend hoher Anteil an Kindern.

Etwa 400.000 Kinder sind in der Bekaa Ebene als eigentlich schulpflichtig registriert, davon besuchen ca. 150.000 regelmäßig schulische Einrichtungen staatlicher und sonstiger Träger. Das heißt, dass vier Fünftel keinerlei Unterricht besuchen. Viele Familien sind jetzt zwei bis drei Jahre vor Ort, der überwiegende Teil ist verschuldet. Waisen und Halbwaisen sind an der Tagesordnung, Eltern kämpfen jenseits der Grenze, arbeiten 13 Stunden am Tag, sind im Gefängnis auf syrischer Seite oder tot. Großeltern tun was sie können.

Europas Verantwortung

Vorstellung des Zeltschulprojekts „Alphabet“ in der Bekaa-Ebene, Libanon

Vor fast vier Jahren – im März 2011 – begannen in Syrien, wie zuvor in anderen arabischen Ländern Nordafrikas (Tunesien, Ägypten und Lybien), heftige Proteste gegen die Regierung unter Baschar al-Assad. Der Auslöser war weit weniger spektakulär als in Tunesien, fast banal: Schulkinder malten in der südsyrischen Stadt Deraa u. a. regierungsfeindliche Parolen an die Schulmauer. Der Direktor der Schule rief nicht die betroffenen Eltern – wie sonst üblich - zu sich, sondern die Polizei. Diese inhaftierte die minderjährigen Schüler über Tage, verhörte sie, es kam zu Misshandlungen. Empörte Eltern wurden sowohl vom Polizeipräsidenten als auch vom Gouverneur barsch zurückgewiesen und verhöhnt. Die Lage eskalierte daraufhin sehr rasch. In der nahe gelegenen Moschee wurde ein Protestmarsch organisiert. Es fielen erste Schüsse von Seiten der Sicherheitskräfte, die ersten Toten waren zu beklagen. Die nachfolgenden Proteste auch in anderen Städten gerieten schnell zu Massendemonstrationen gegen die Regierung. Angestaute Unzufriedenheit über soziale Notstände, ineffektive Justiz, Korruption und nicht umgesetzte, wohl aber versprochene Reformen, waren auch nach Absetzen von Polizeipräsident und Gouverneur der betroffenen Provinz nicht mehr zu beruhigen. Dies gelang auch einer eilends aus Damaskus angereisten hochrangigen Regierungsdelegation nicht, die Gesprächsangebote unterbreitete. Die Protest- und Demonstrationswelle erfasste immer weitere Teile des Landes und blieb zunächst, trotz täglicher Opfer infolge von Übergriffen der Sicherheitskräfte, relativ lange friedlich.

Den weiteren Verlauf der syrischen Tragödie durften wir in zahlreichen Einzelberichten, Leitartikeln, Sendungen, politischen Stellungnahmen und UN-Verlautbarungen zur Kenntnis nehmen. Nach wochenlangen Protesten gerieten letztlich die friedlichen Kräfte des Protestes in die Defensive. Dazu trug auch der sehr repressive Sicherheitsapparat bei. Tausende Oppositionelle wurden in diesen Monaten inhaftiert, während gleichzeitig die Regierung Gesprächsangebote unterbreitete und Protestdelegationen empfing. Waffenlieferungen aus unterschiedlichsten Quellen, aber auch ausländische bewaffnete Kräfte (iranische und schiitische Kräfte auf Seiten der Regierung als auch Extremisten auf Seiten der Aufständischen), griffen zunehmend in den Konflikt ein. Die FSA (Freie syrische Armee) wurde von übergelaufenen Regierungstruppen gebildet. Die Regierung selbst entließ hunderte Jihadisten aus der Haft, auch, um die Aufstandsbewegung zu spalten und zu diskreditieren. Der Aufstand im multiethnischen und multireligiösen Syrien entwickelte sich immer mehr zum Bürgerkrieg. Die Assadtruppen und ihre verbündeten Milizen gingen gegenüber der Zivilbevölkerung mit ihren weit überlegenen Waffenarsenal mit großer Brutalität vor. Westliche Initiativen zur Befriedung scheiterten an unterschiedlichsten Interessen in der Region, nicht zuletzt an der eindeutigen Parteinahme Russlands und Irans für Assad. Aber auch die sunnitischen Kräfte der Region (Türkei, Saudiarabien, Katar) befeuerten den Konflikt in fragwürdiger Weise. Die humanitäre Lage entschärfende Maßnahmen, wie eine Flugverbotszone über Syrien, waren durch Blockade im Weltsicherheitsrat politisch nicht durchsetzbar. Letzter Höhepunkt im syrischen Drama war die Etablierung des IS, der eine Befriedung der Region in weite Ferne rücken und Europa inzwischen unmittelbar zur Konfliktpartei werden ließ.

Die humanitären Konsequenzen des vorab skizzierten Geschehens sind desaströs. Weite Teile der zivilen syrischen Infrastruktur sind inzwischen zerstört bzw. nicht mehr nutzbar (z. B. 60 % der Gesundheitseinrichtungen), Großstädte wie Aleppo oder Homs sind großteils ruiniert und entvölkert (von einst über zwei Million Einwohner Aleppos sind über 700.000 auf der Flucht). Im Land selbst wird die Zahl der Binnenflüchtlinge auf über 7 Millionen geschätzt. Die Nachbarländer sind mit den Flüchtlingsströmen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit angekommen (Libanon ca. 1,5 Mill., Jordanien ca. 1,1 Mill., Türkei ca. 1 Mill., Irak ca. 400.000, Ägypten ca. 200.000). Besonders drastisch stellt sich die Lage im kleinen Libanon dar. Auf einer Fläche halb so groß wie Hessen leben ca. 4,2 Millionen Libanesen. Große Teile des Landes sind gebirgig, die Winter in der Bekaa Hochebene eher hart. Alleine dort befinden sich aktuell 700.000 syrische Flüchtlinge, viele bereits seit 2-3 Jahren. Die Bedingungen sind primitiv und garantieren gerade das Überleben. Fast alle Flüchtlinge sind in Zeltdörfern untergebracht, zu einigen wurde inzwischen zumindest Strom verlegt. Die Frischwasserversorgung ist immer wieder schwierig, die Abwasserentsorgung ohnehin. Die Heizmöglichkeiten sind bescheiden. Die medizinische Versorgung umfasst das absolute Minimum und auch das scheint gefährdet. Viele Familien sind inzwischen finanziell am Ende und überschuldet. Brennholz, Nahrung und auch der Zeltplatz (ca. 50 Dollar für 20 Quadratmeter) müssen irgendwie finanziert werden. Viele Kinder und Jugendliche arbeiten 12-13 Stunden am Tag zu Dumpinglöhnen in Gelegenheitsjobs. Das schafft Spannungen zur einheimischen Bevölkerung. Kinderarbeit ist häufig, Prostitution und Zeitehen junger Mädchen breiten sich in beunruhigendem Maße aus.

Vielleicht am gravierendsten ist allerdings die fehlende schulische Infrastruktur. Die Zahl der registrierten schulpflichtigen Flüchtlingskinder beträgt im Libanon 400.000. Davon besuchen 150.000 Kinder schulische Einrichtungen (staatliche, verschiedene private Träger). Das bedeutet, dass ca. zwei Drittel der Kinder keinerlei Schulunterricht besuchen – und das schon seit Monaten bis Jahren. Ihr Umfeld ist geprägt von Verlust der Heimat, wichtigen Bezugspersonen, primitiven beengten Lebensverhältnissen und einem kaum strukturierten Alltag. Auch dem Nichtpädagogen leuchten die Konsequenzen solcher Verhältnisse – sollten diese andauern – rasch ein: Bildungsferne, emotionale Fehlentwicklungen, Frustration und spätere Perspektivlosigkeit führen zu Anfälligkeit für extremistische Sichtweisen. Es ist also alles daran zu setzen, die Situation der Familien und insbesondere der Kinder schrittweise zu verbessern, und zwar nicht in der fernen Zukunft eines etwaigen Friedens, sondern jetzt an Ort und Stelle.

Zeltschule „Alphabet“
Zeltschule „Alphabet“ (Foto: Wilhelm Berger)

In diesem Kontext soll das von wenigen Privatpersonen 2012 ins Leben gerufene Projekt „Alphabet“ vorgestellt werden. Ziel ist es, mit geringem Mitteleinsatz dringend benötigten Schulunterricht für Kinder zwischen drei und zwölf Jahren direkt vor Ort in sogenannten „Zeltschulen“ zu etablieren. Dazu werden die ebenfalls flüchtigen und oft beschäftigungslosen Lehrkräfte aus Syrien geworben und mit einem bescheidenen, das Existenzminimum sichernden Gehalt, ausgestattet. Häufig kommen diese Lehrer aus dem Camp selbst oder einem der benachbarten Camps. Weder Kinder noch Lehrer haben wesentliche Wege zurückzulegen. Das Schulzelt ist mit festem Boden und einem Ofen ausgestattet, die Lehrmittel sind sehr einfach, aber ausreichend. Die Kinder bleiben somit auch in unmittelbaren Kontakt mit den sie begleitenden Eltern, häufiger noch Großeltern. Prinzip ist es, einen überkonfessionellen, multiethnischen Unterricht in gemischten Klassen, meist Kombiklassen, anzubieten.

Seit dem Start der Initiative in einem Schulzelt mit 20 Kindern, hat sich die Unternehmung auf über 1.000 Kinder, unterrichtet von 17 Lehrkräften in ca. 20 Schulzelten, erweitert. Es wurde von Beginn an von den Flüchtlingsgemeinschaften sehr gut angenommen. Die Wirkung auf die Kinder scheint sehr positiv, Tagesstruktur und Inhalt kehren zurück. Die Wissbegierde der Kinder und ihre Liebe zu ihrer kleine Schule äußern sich, wie wir uns selbst überzeugen konnten, in überwältigender Weise. Die Lehrkräfte schließlich sind hochmotiviert und erhalten ihren ursprünglichen Auftrag zurück, der in diesem Lebenszusammenhang eine ganz existentielle Bedeutung gewinnt. Betreut wird das Projekt von engagierten Privatpersonen aus Beirut und auch Deutschland. Ein gebrauchter Renault Kangoo schafft die notwendige Mobilität zwischen den Camps zum Materialtransport. Vor Ort wird ein kleines Magazin mit den notwendigen Lehrmitteln unterhalten. Drei Angestellte stellen die nötige Infrastruktur vor Ort sicher. Inzwischen konnten immerhin 36 Schüler des Projekts auf weiterführende libanesische Schulen in Bekaa-Ebene und in Beirut vermittelt werden. Es liegen zahlreiche Anfragen aus anderen Camps vor, ob ähnliche Einrichtungen auch bei ihnen geschaffen werden können. Eine Erweiterung der Initiative ist gewünscht und auch dringend geboten.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Der syrische Konflikt hat eine humanitäre Notlage ungeahnten Ausmaßes gezeitigt, die ihrerseits das Potential hat auch die Nachbarregionen zu destabilisieren. Ihre Ausläufer erreichen uns nun seit Monaten. Hauptleidtragende sind die Kinder (ca. 40-50 % der Flüchtlinge), deren Zukunft auf vielerlei Weise massiv gefährdet erscheint. Europa ist inzwischen erheblich in diesen Konflikt involviert. Dazu bedarf es lediglich eines Blickes auf die Landkarte und in die Geschichtsbücher. Auch Entscheidungen auf europäischer Ebene in jüngster Vergangenheit legen eine solche Einschätzung nahe. Daraus folgt eine hohe Verantwortung, ja sogar Pflicht, die humanitären Auswirkungen zu begrenzen. Das sollten die europäischen Gesellschaften schon aus reinem Eigennutz tun. Einer der Brennpunkte ist ganz sicher die schulische Bildung der Kinder und Jugendlichen. Das vorgestellte Projekt „Alphabet“ versucht hier einen Beitrag zu leisten, bedarf aber der erheblichen Unterstützung von außen.

In und aus den Medien

Flüchtlingshilfe auf dem Vorderhunsrück

Allgemein

Weiterführende Informationen

Zur allgemeinen Information

Für Helfer

Für Sprachlehrer

Literaturtipps

  • Edlinger, Fritz; Kraitt, Tyma (Hrsg.): Syrien - Hintergründe, Analysen, Berichte zum aktuellen Konflikt. Promedia 2013
  • Scheck, Frank Rainer; Odenthal, Johannes: Syrien. Hochkulturen zwischen Mittelmeer und Arabischer Wüste. DuMont 2011
  • Fansa, Mamoun (Hrsg.): Aleppo - Ein Krieg zerstört Weltkulturerbe - Geschichte, Gegenwart, Perspektiven. Nünnerich-Asmus 2013