16 Leute, vier Tonnen, sieben Fahrzeuge, 2.000 Kilometer, ein privater Hilfsgütertransport für Flüchtlinge an die Grenze der EU

Unter Beteiligung der Syrienhilfe Vorderhunsrück kam die spontane Hilfe gut an

„Sei kein Weichei!“

Am Freitag, den 30.Oktober 2015 um 8:15 Uhr erläutert Helmut Berger, Initiator und Geschäftsführer des Vereins Wohnhilfe e. V., bei einem Treffen in der Geschäftsstelle des Wohnhilfe e. V. in München, den 15 Mitstreitern, was sie erwartet: Geplant ist ein Einsatz in Brežice in Slowenien, nahe der Grenze zu Kroatien, wo die Not nach Auskünften der Intereuropean Human Aid Association (IHA), mit der Berger in Kontakt steht, momentan sehr groß sein soll. Die IHA hatte sich während der Tage der Katastrophe in Ungarn gegründet, arbeitet seitdem sehr erfolgreich und kooperiert mit den großen NGOs. Doch die Brennpunkte verlagern sich zurzeit schnell. Es stehe also noch nichts definitiv fest.

Sechs Mitarbeiter der Wohnhilfe sind unter der Konvoi-Truppe, darunter ein Syrer, der schon seit über 20 Jahren in Deutschland lebt und Milan, der ursprünglich aus Bosnien- Herzegowina stammt. Eventmanager Christoph Pankowski, Geschäftsführer von Goldjungen Events ist dabei, um die Kleiderspenden, die er selbst gesammelt hat, an einen Hotspot zu bringen. Felix und Monika hatten schon am Hauptbahnhof Schichten übernommen, aber da wird ja seit dem Oktoberfest eigentlich kaum mehr jemand gebraucht. Das Drehkreuz München ist seitdem nicht aktiv, obwohl Tausende von Plätzen in den Erstaufnahmestellen bereitstehen, die Ankunft der Flüchtlinge wird derzeit über Passau abgewickelt.

Jenny, Studentin für Arabisch und Hebräisch, hat von der Flüchtlingshilfe Bayern e. V. von der Aktion erfahren. „Jenny, tu was, sei kein Weichei!“, hatte sie sich gesagt und spontan zugesagt.

Innerhalb von wenigen Tagen organisierte Helmut Berger die Aktion. Am Samstag zuvor hatte er eine Mail an Freunde und Bekannte verschickt, in der er um Mithilfe für die Hilfsaktion an der slowenischen Grenze bat, „um die humanitäre Katastrophe vor unserer Haustür wenigsten etwas zu mildern“. Am Donnerstag darauf sortierten freiwillige Helfer in den Räumen der Wohnhilfe in der Nockherstraße 60 fünf Tonnen warme Kleidung, Schuhe, Babynahrung, Windeln, zwei Rollstühle, zwei Rollatoren, Krücken, Plüschtiere und mehr in Plastiksäcke und Kartons und beschrifteten sie.

Anruf aus Ljubljana

Um 9:30 Uhr startet der Konvoi – ein 7,5-Tonner, zwei 3,5-Tonner, zwei VW-Busse, zwei PKW und ein Anhänger.
Auf der Autobahn dann ein Anruf der Koordinatorin aller NGOs für Slowenien aus Ljubljana: „Wie viel haben Sie genau dabei? Fünf Tonnen? Das hatten wir noch nie. Da muss ich noch einmal nachhaken, aber eigentlich sind alle Warenlager voll.“

Inzwischen ruft eine Mitarbeiterin der IHA zurück. Tatsächlich nähmen in Slowenien die Stellen zurzeit nichts mehr an, die Situation ändere sich eben stündlich. Aber wir könnten die Straße an der Grenze entlangfahren und sehen, ob Ströme unterwegs sind und dort unsere Hilfsgüter verteilen. Klar, im Konvoi an der Straße entlang und gegebenenfalls einfach verteilen. Der Vorschlag stößt bei Helmut Berger auf wenig Begeisterung. Oder die Lager einzeln abfahren, auf der Website seien die verzeichnet. Klingt auch nicht nach einem erfolgversprechenden Plan.
Schließlich ruft die Koordinatorin aus Ljubljana noch einmal an: Keines der Warenlager nimmt mehr etwas an. Es täte ihr leid, aber vielleicht würde sie auch von den Hilfsorganisationen etwas an der Nase herumgeführt. Ihr Vorschlag: „Fahren Sie an die serbisch-kroatische Grenze in das Lager nach Opatovac, da kommen täglich 4.000 Flüchtlinge an und der Bedarf an warmen Sachen ist groß.“ Das klingt nach einem konkreten Plan, aber das heißt auch: zusätzliche 800 Kilometer hin und zurück. Die Koordinatorin schickt eine SMS mit den Kontaktdaten des Ansprechpartners in Opatovac. Der erklärt uns: Wenn wir unsere Waren abladen wollen, müssen wir uns bis 14 Uhr akkreditieren, sonst kommen wir nicht mit unseren Lastern nicht hinein. Wir vereinbaren, dass wir uns morgen melden.

Nach etwas abenteuerlicher Fahrt durch die bei Tageslicht wahrscheinlich faszinierende Berglandschaft ist das Nachtquartier im Hotel in Krško erreicht.

Bananenlieferung und ein Syrer unterwegs nach Norden

Beim Abendessen präsentiert Helmut Berger allen die neue Option – und alle sind dabei. Die zusätzliche angekündigte Lieferung von Bananen im Wert von 800 Euro eines befreundeten Geschäftsmanns aus München der nachkommen wollte, wird allerdings telefonisch an die deutsch-österreichische Grenze delegiert – die Bananen hätten die lange Fahrt wohl nicht unbeschadet überstanden (er konnte sie am Samstag in Freilassing verteilen).

Werner telefoniert nach Hause. Der Freund des Bruders von Helmut Berger ist in der Syrienhilfe Vorderhunsrück tätig und reist mit einem Anhänger voller Hilfsgütern an, um den Konvoi zu begleiten. Er hat vor einem Jahr eine syrische Familie bei sich aufgenommen. Vor kurzem hatte sich auch der Bruder der Familie auf den Weg von Syrien nach Europa gemacht. Vor zwei Tagen dann ein schockierender Anruf von der Küste vor Lesbos aus dem Flüchtlingsboot: Der Kapitän sei ohnmächtig, das Boot führerlos am Kentern. Zum Glück schaffte er es schwimmend an Land. Werner erzählt, er befinde sich bereits auf dem Weg nach Norden. Für Werner steht fest: „Da bleibe ich gleich hier und nehme ihn mit.“ Dass das Wochen lang dauern kann, kümmert ihn nicht: „Dann warte ich eben.“

Fahrt durch Kroatien Am nächsten Morgen geht es früh los, an diesem wunderschönen Herbsttag könnte man ewig durch die Landschaft spazieren fahren. Es geht durch Slawonien, die einstige Kornkammer Jugoslawiens mit vielen Feldern, streckenweise bezaubernd, sogar von der Autobahn. Dann Anruf in Opatovac. Zum Glück ist Milan dabei, der die Sprache spricht. Die Akkreditierungsstelle sei seit heute verlegt worden, in einer andere Stadt zig Kilometer vom Transitlager. Keine Chance, das noch zu schaffen. Der Kontakt von der Registrierungsstelle kommt wieder per SMS. Die Dame ist freundlich flexibel und kündigt uns ausnahmsweise telefonisch in Opatovac an.

Die letzten 60 Kilometer fährt der Konvoi geschlossen, an einer Raststelle sammelt Helmut Berger die Fahrzeuge. Nicht immer klappt das über Handy. Er stellt sich mit Warnblinkanlage seitlich in die Ausfahrt. Milan winkt derweil die Fahrzeuge heran. Auch ein Pannenfahrzeug nähert sich erwartungsvoll. Enttäuscht von der Erklärung, das hier sei ein Konvoi mit Hilfe für Flüchtlinge, outet er sich selbst als Flüchtling „aus Bosnien- Herzegowina“.

Milan möchte gerne seine Tante in Vukovar, das etwa zehn Kilometer vor Opatovac liegt, besuchen. Vukovar war während des Kroatien-Kriegs (1991–1995) die am stärksten umkämpfte Region. Bei der serbischen Belagerung wurde Vukovar weitgehend zerstört, Tausende Menschen wurden getötet. Milans Tante, heute 83, ist in Vukovar geboren, lebte während des Kriegs zehn Jahre in Zagreb. Vor fünf Jahren, als ihr Haus wieder aufgebaut war, kehre sie in ihre Heimatstadt zurück. Bis heute wirkt die Stadt mit dem zerschossenen Wasserturm als Mahnmal der Zerstörung und den vielen immer noch zerstörten Häusern ein bisschen gespenstisch, als wir durch die Straßen fahren. Nach weiteren zehn Kilometern, teils auf Straßen quer durch die Felder kommen wir in Opatovac an, das im mitten von Nichts liegt. Bewaffnete Polizisten und Militär patrouillieren. Busse mit Flüchtlingen kommen an, einer nach dem anderen. Das Lager besteht aus Militärzelten und verschiedenen Baracken. Tomislav Koren vom kroatischen Roten Kreuz empfängt uns, er ist der Chef aller Hilfskräfte auf dem Camp und lässt unsere Fahrzeuge, eins nach dem anderen, zum entladen rein.

Etwa 3000 Flüchtlinge täglich werden hier registriert und durchgeschleust und am Wochenende 40 ehrenamtliche Helfer

Kleider, Babynahrung, Windeln, Decken, Schuhe werden in den Lagerraum gehievt – insgesamt fünf Tonnen. Es geht auf den Abend zu und wird zunehmend frisch. Immer mehr freiwillige Helfer in orangefarbenen fluoreszierenden Westen eilen in das Warenlager, um Säcke mit Decken teilweise auf Sackkarren herauszufahren.

„Täglich kommen hier bis zu 3000 Flüchtlinge an, bleiben aber maximal 5 Stunden im Transitlager, wenige über Nacht“, erzählt Ana, die alle ehrenamtlichen Helfer koordiniert. Sie kommen mit Bussen von der serbischen Grenze. Es gibt vier Sektoren im Lager, einer ist nur für Familien vorgesehen. Die bestehen zum Teil aus über 20 Personen, von der Oma bis zum Urenkel. Hier kam auch die bis dato älteste bekannte Flüchtlingsfrau mit 107 Jahren an. Es gibt geheizte Baracken für Frauen mit Babys und einen Tracking-Point, wo Mitarbeiter nach vermissten Familienmitgliedern suchen. Die Familien werden nicht weitergeleitet, bis sie nicht komplett zusammen sind, die Gefahr ist sonst zu groß, dass sie für immer getrennt bleiben, sich nie wieder finden. Anna kommt aus Zagreb und möchte einmal „Krisenmangager“ in einer großen Hilfsorganisation werden. Aber das ist sie eigentlich schon längst, auch wenn sie ehrenamtlich arbeitet. Nach 30 Stunden ohne Schlaf und neun Tagen Einsatz am Stück sieht sie aus wie andere früh morgens auf dem Weg zum Büro. „Wir haben Erfahrung mit der Flutkatastrophe im Balkan letztes Jahr gemacht, da habe ich auch geholfen, jetzt haben wir uns auf die Situation eingestellt. Denn der Flüchtlingsstrom wird nicht aufhören, da bin ich mir sicher.“ Die Helfer vom Roten Kreuz von Kroatien, UNHCR und Unicef versorgen die Flüchtlinge mit Kleidung und Essen, sind aber auch für die Reinigung der Zelte zuständig. “Da gibt es wirklich kulturelle Unterschiede“, sagt Ana. „wenn Syrer in einem Zelt waren, ist da nicht viel zu tun, aber bei Afghanen gleicht das Zelt einer Müllhalde. Das hat aber nichts mit Unhöflichkeit oder Undankbarkeit zu tun, sondern sind einfach andere Gepflogenheiten, die kulturell bedingt sind.“ So wurden ankommenden Flüchtlingen anfangs gleich beim Eingang Decken zur Begrüßung in die Hand gedrückt. Es verbietet aber ihre Kultur, das Geschenk gleich anzunehmen, also warfen sie die Decken gleich wieder weg und das Zelt glich nach der Abreise einem Deckendepot. Das Prozedere wurde inzwischen geändert, die Decken gibt es erst später.

Das Lager in Opatovac wird in den nächsten Tagen geschlossen und ein winterfestes größeres in Slavonski Brod ca. 130 Kilometer entfernt eröffnet. Unter der Woche sind 130 ehrenamtliche im Einsatz, am Wochenende manchmal nur um die 40. So haben inzwischen auch auch Felix, Jenny und Ingrid – auch ohne akkreditiert zu sein – Helferwesten an und eilen mit Säcken mit Decken oder Babynahrung zu den Flüchtlingen, bis Tomislav Einhalt gebietet: „Ohne Akkreditierung kann das Ärger mit der Polizei geben und wir müssen schließlich mit ihnen zusammenarbeiten.“ Alles ist streng organisiert, die Flüchtlinge werden nach Kontrolle der Ausweispapiere und Registrierung mit Kleidung und Essen erstversorgt und dann in Gruppen wieder aus dem Lager geleitet, wenn wieder ein Bus bereitsteht, der sie an den Bahnhof nach Tovarnik bringt. Von dort bringt ein Zug die Flüchtlinge an die slowenische Grenze.

Einen Monat unterwegs über sechs Grenzen So sehr die Ordnung im Gesamtbild positiv überrascht, so sehr schockiert Not und Leid der erschöpften Menschen, die teilweise seit einem Monat unterwegs sind. Hinter der Absperrung wartet eine Familie aus Syrien auf den Transport zum Bahnhof eng gedrängt seit über einer halben Stunde. Ein etwa einjähriges Kind hängt halb schlafend, mäßig bekleidet auf den Armen seines Vaters. Seit einem Monat ist die Familie unterwegs. Er arbeitete in Syrien in der Informatikbranche und freut sich, ein paar Worte mit dem Mitarbeiter der Wohnhilfe e.V. Bassam, gebürtig aus Syrien, in seiner Landessprache wechseln zu können. Die Familie möchte weiter nach Schweden, wo Bekannte bereits seit einiger Zeit leben. Unvorstellbar, dass sie in dieser Enge und Bedrängnis wartend bereits über die Türkei in Griechenland eingereist sind, die mazedonische und serbische Grenze passiert haben, die slowenische, österreichische und deutsch noch vor ihnen liegt. Als wir uns auf den Weg machen wollen, ist Ingrid nicht davon abzuhalten, noch einem Kleinkind ein Glas Babynahrung zu bringen und schwer zu überreden einzusteigen.

Auf dem Rückweg telefoniert Milan mit seiner Tante, für einen Besuch reicht es leider nicht, dafür empfiehlt sie ein Restaurant im Hotel in Vinkovci. Nach Ćevapčići, Pommes und Salat, skypt Werner nach Hause. Der Bruder seiner syrischen Familie ist bereits in Serbien. Die Entscheidung ist schnell gefällt: Werner bleibt vor Ort, will den Bruder seiner syrischen Freunde am nächsten Tag persönlich im Lager von Opatovac abholen. Da kennen sie ihn ja ohnehin schon. Seine Tasche kann er dann auch gleich abholen, die ist aus Versehen bei den Babysachen für die Flüchtlinge gelandet. Wie es die knapp 40 Kilometer nach Opatovac kommen will? Zu Fuß, wie sonst. Darin hat er nämlich Erfahrung, schließlich hat er seine Petition für die Bundeskanzlerin in Berlin persönlich abgegeben und ist vom Hundsrück dorthin zu Fuß ca. 650 Kilometer marschiert. Der Rest der Truppe fährt wieder nach Krško und kommt um Mitternacht im Hotel an. Am Sonntagmorgen bebt einige Sekunden lang die Erde und wir wollen nur noch raus aus dem Hotel. Doch das Personal reagiert gelassen – so als wären sie kurzzeitige Beben gewohnt. Die Heimfahrt am nächsten Tag gleicht fast einem Sonntagsausflug durch die bunte slowenische Herbstlandschaft mit knallblauem Himmel. Ingrid empfiehlt an der letzten Raststätte vor der österreichischen Grenze „Kremsnite“, beeindruckend mächtige Cremschnitten mit Vanillecreme. Sie erzählt, wie sich die kroatischen von den slowenischen und die wiederum von den serbischen Cremschnitten unterscheiden. Warum sie da so gut Bescheid weiß? Weil ihre Eltern vor dem Zweiten Weltkrieg in Serbien lebten, dann nach dem Krieg als Deutschstämmige die Flucht antreten mussten und vorübergehend in München in einem Lager lebten – eine andere Flüchtlingsgeschichte.